LISTENING COMPREHENSION

Zu Hören verstehen …
Über das Dreiecksverhältnis von Klang, Ideologie und Erfahrung
Vorüberlegungen zu paraflows .6 Listening Comprehension

Das Hören der Gesellschaft
Die Klangräume, in denen wir uns bewegen, sind nicht einfach nur Informationsanhäufungen (und spezifische Überlagerungsformen von Information), die wir für sich oder in ihrem Zusammenspiel registrieren und verarbeiten müssen, um uns ein (akustisches) Bild der Räume und Situationen zu verschaffen, in denen wir uns befinden. Was da klingt, ist keine Außenwelt, deren Gehalt und Bedeutung – ihr so genanntes „Sosein“ – schon immer feststeht, und der wir nur ablauschen müssen, wie genau sie nun eigentlich ist. Sie besitzt keinen objektiven Wesenkern, der sich darin zu erkennen gibt, wie sie aussieht oder klingt, und den wir folglich nur auszulesen brauchen, um zu einem adäquaten Verständnis der „Welt“ und ihrer „Wirklichkeit“ zu kommen.

Anders gesagt: „Wirklichkeit“ (bereits der Begriff, den wir uns von ihr machen, enthält ihre Vermitteltheit) lässt sich nicht losgelöst von jener Kultur denken, die sie hervorbringt und durch ihre physischen oder medialen Sinnesorgane zugleich immer wieder vernimmt. Am ehesten ließe sich die Realität also weniger als ursprüngliche oder authentische Substanz beschreiben, sondern vielleicht besser als ein Signal, das in einer endlosen Feedbackschleife gefangen ist. Um sie zu verstehen ist es daher wichtig, die Weisen zu ergründen, wie wir sie formen, indem wir sie wahrnehmen. Weil wir nämlich unsere Umwelt sinnlich erfahren, vermischen wir stets externe Sinnesdaten mit von uns erlernten Programmroutinen – ohne dass das eine noch vom anderen geschieden werden könnte. Reine Erfahrung gibt es nicht, da sie nur durch die Filter unseres Vorwissens und unserer Seh- und Hörgewohnheiten zustande kommen kann. Eine erste Übersetzungsleistung besteht ja bekanntlich schon darin, dass unser Gehör physikalische Schwingungen in Töne verwandelt. Da wo es kein Ohr gibt, gibt es auch keinen Klang. Aber ebenso wie das Gehirn Bilder und Geräusche erzeugt, die ohne sein Zutun so nicht existieren, vermischt es, was es sieht, hört oder riecht, bereits mit Bedeutungen und Referenzen, die wir als Kultur und als Individuen mit den Sinneseindrücken assoziieren. Diese sind kein Bestandteil der Daten, die wir aufnehmen, sondern jene Erfahrung, ohne die wir überhaupt nichts aufnehmen könnten.

Unser Hören lässt sich – wie unser gesamter sensorischer Apparat – also nicht einfach dem vorgesellschaftlichen Bereich der „Natur“ zuschlagen. Es ist selbst Bestandteil einer gesellschaftlichen Praxis, die es präfiguriert, hervorbringt und formt. Wie wir etwas akustisch erfahren, hängt von Form und Struktur, von Ideologie und Praxis der jeweils exekutierten gesellschaftlichen Realität ab. Und die wiederum kolonisiert unsere Erfahrung in einer Weise, die uns dazu verleitet, beides – die Wirklichkeit und unsere Konstruktion derselben – schlicht für das Selbe zu halten. Die Gesellschaft, die sich in unserer Sinnlichkeit abbildet und ausdrückt, wird so integraler Bestandteil unserer Subjektivität. Um erstere aber verändern zu können, ist es entscheidend, ein Bewusstsein davon zu entwickeln, was diese mit uns zu tun hat und inwieweit unser scheinbar authentisches Selbstsein aus gesellschaftlichen Formierungsprozessen hervorgegangen ist.

Klangwahrnehmung folgt kulturell vorgegebenen Erfahrungsmustern und tradierten Interpretationsweisen, die wir stets „mithören“, aktualisieren und am Einzelklang überprüfen, was uns freilich kaum je zu Bewusstsein gelangt. So waren die Menschen früherer Epochen mit einem erheblich höheren durchschnittlichen Lärmpegel konfrontiert, wie ihn die Tiere eines Bauernhofs, Pferdefuhrwerke auf Kopfsteinpflaster oder die Kirchenglocken zur vollen Stunde regelmäßig erzeugten. Dennoch steht zu vermuten, dass sie diese Umgebungsgeräusche nicht – oder nicht ausschließlich – als Ruhestörung empfunden haben, sondern als festgeschriebene und verlässliche Bestandteile einer festgeschriebenen und verlässlichen Welt. Trotz erheblicher Phonstärken waren sie eine beruhigende Nachricht darüber, dass alles so war, wie es schon immer gewesen ist und folglich wohl auch sein soll. In dieser gleichmäßig verfließenden Welt verbrachten die Menschen ihr Leben als ewige Wiederkehr des Gleichen, also auch: der gleichen Klangeindrücke, die keine informationelle Überforderung waren, sondern Signale, dass alles in gewohnten Bahnen verlief.

Noise Culture: Der Lärm der Anderen
Wie es also scheint, ist es nicht das Geräusch selbst – und auch nicht seine Lautstärke oder spezifische Frequenz – was als ruhestörend empfunden wird. Es ist die in ihm enthaltene Information, die uns unruhig werden lässt (oder beruhigt), aus dem Schlaf reißt (oder in diesen wiegt). Die Fähigkeit, sie zu entschlüsseln, haben wir im Laufe unserer Sozialisation erworben und dann als Hörgewohnheiten internalisiert.

Menschliche Kultur besteht vor allem darin, Informationen zu ordnen, das Wichtige vom Nebensächlichen zu unterscheiden, geeignete Ordnungsrahmen und sinnvolle Interpretationsmuster bereitzustellen, die ein „White Noise“ – das Rauschen der uncodierten, nicht entzifferbaren Signale – in Bedeutung übersetzen.

Diese Ordnung zu stiften ist die primäre menschliche Kulturleistung, die niemals abgeschlossen sein kann: Je mehr die Ermöglichungsbedingungen von Kultur - also Ökonomie und Technologie - entfesselt werden, desto komplizierter wird die Orientierung in ihnen. Das Ordnungsstiften erleben wir in dem Maße als strukturelle Überforderung, wie sich der Kulturraum technologisch und demografisch verdichtet. Je weiter und „intensiver“ (das heißt schneller und vernetzter) er wird, desto höher wird die von ihm erzeugte Informationsmenge, die die Subjekte strukturell bewältigen müssen. Das Anschwellen der Information empfinden wir dann als Zugzwang und Stress, als Nichtwissen oder persönliche Inadäquatheit. Sie erleben wir als Poly- oder Kakophonie, weil ihre Geräusche nicht mehr harmonisch zusammenstimmen, und wir uns darin nicht mehr zu orientieren vermögen.

Es ist eine besondere Charaktereigenschaft des autonomen modernen Subjekts, die Geräusche der Anderen als etwas Fremdes und als Belästigung wahrzunehmen. Das hat auch damit zu tun, dass die bürgerliche Gesellschaft die Einzelnen in ein (auch akustisch ratifizierbares) Konkurrenzverhältnis zueinander gesetzt hat, welches so gründlich verinnerlicht wurde, dass es eben nicht bei Büroschluss endet. Es erschuf sich jenen isolierten Typus, dessen innigster Wunsch es ist, sich von den anderen zu trennen (und zu unterscheiden) und der nach einem autonomen Bereich verlangt, in den niemand ungebeten eindringen darf.

So entstand jene lebensräumliche Abschottung der „Privatsphäre“, die in der bürgerlichen „Hausordnung“ zu jenem Raum wurde, dessen das Subjekt zur Selbstwerdung und Individuation unbedingt bedarf. Um diese zu gewährleisten muss es sich abschirmen – und auch jene Autonomie, zu der erst das Private befähigt, gegen die Heteronomie sozialer Verhältnisse. Die Geräuschscheue des bürgerlichen Subjekts (die nichts anderes als eine Mitmenschenscheue ist) wurde integraler Bestandteil seiner spezifischen Subjektivität. Wo Außenweltgeräusche ins private Geräuschmanagement einbrechen, kann dies folglich als justiziable „Ruhestörung“ belangt werden.

Die Geräusche von draußen oder von nebenan verweisen in diesem Zusammenhang auf die Kontingenz und das Chaos, das Unstete und Unkalkulierbare der Welt, ihre Intensität und Fülle. All dies gilt es zu bannen um ganz zu sich selbst zu kommen, um sich zu regenerieren und zu reproduzieren. Kulturhistorisch wurde dieses Bedürfnis nach Rückzug als Geräuschempfindlichkeit habitualisiert. Der Lärm, den die Anderen allein dadurch erzeugen, dass sie existieren, verweist auf Formen der Vergesellschaftung, die der bürgerliche Rückzug in die eigenen vier Wände von sich abgespalten hat. Und genau deswegen empfinden wir es – anders als die Menschen des vorbürgerlichen Zeitalters – als störend, wenn wir Ausgelassenheit oder sexuelle Kommunikation aus der Nebenwohnung mit anhören müssen, weil sie uns daran erinnert, was der Preis für unseren Rückzug ist: das Alleinsein und der Kommunikationsverlust, unser Getrenntsein von den Anderen.

Aus all dem entstand der bekannte Wunsch nach Ruhe und Frieden, verstanden als zumindest vorübergehende Freiheit von disharmonischen akustischen Signalen und jener Grundlautstärke des frühen 21. Jahrhunderts. Diese Sehnsucht wird wohl von den meisten Menschen geteilt – zumindest bisweilen. Sie übersetzt sich in jene kulturelle Erzählung, die Stille synonym setzt mit Friede und Entspannung und die Geräuschfreiheit zur Stressbekämpfung empfiehlt. Sie begegnet uns täglich in vielerlei Gestalt.

Und dennoch herrscht an den Orten, an die wir diese Wünsche delegieren, den Urlaubszielen und Erholungszonen, ja keineswegs völlige Stille. Ganz im Gegenteil sind sie meist besondere akustische Erfahrungsräume: Die Meeresbrandung am Strand, die Bauernhofatmosphäre auf der Sommerfrische oder die Vögel und Grillen in den Naherholungsgebieten stellen gewissermaßen spezifische Soundkulissen zur Verfügung, in denen wir unserem geballten Geräuschalltag entkommen können. Trotz ihrer zum Teil erheblichen Phonstärke bieten diese Klangräume unseren Sinnen Entlastung. Sie säuseln uns ein und befreien vom akustischen Stress, und zwar in dem Maße, wie uns die Informationen, aus denen sie bestehen, nichts angehen, eben weil sie nicht für uns bestimmt sind. Wir müssen sie nicht entziffern oder verstehen. Sie enthalten nur eine einzige Handlungsanweisung: abzuschalten; was sie uns zu sagen haben ist lediglich, dass sie uns nichts zu sagen haben.

Ebenso projizieren wir unseren Wunsch nach Ruhe in (imaginäre) vormoderne Zeiten oder Gegenden, die akustisch noch nicht von der Moderne kolonisiert waren. Hier finden wir eine starre Durchregelung des akustischen Raumes: Das Gehör kann sich darauf verlassen, im Geräusch oder Lärm nicht mit Unbekanntem oder Fremdem konfrontiert zu werden, sondern mit Vertrautem, einer Mitwelt, die im Geräuschpegel zustande kommt, dessen Entäußerungen ihre unausgesetzte Kontinuität verbürgt.

Insofern ähnelt das Rauschen des Meeres oder das Blöken der Tiere im Stall dem, was Kant als „das Schöne“ bestimmt hat, weil es „interesselos wohlgefällt“. An ihm genießen wir, dass es nichts mit uns zu tun hat, uns nicht braucht und ganz außerhalb des Reiches menschlicher Zwecke zu liegen scheint. Deswegen können wir vor ihm in Kontemplation versinken. Es verweist so auf ein Imaginäres, dem wir vertraute Qualitäten zuschreiben: die klangliche Eintracht mit der Welt, jenes Phantasma reiner Existenz, die uns noch nicht zum selbstverantwortlichen Subjekt unseres eigenen Lebens gemacht hat. Auf diese Weise glauben wir unsere Subjektivität nach rückwärts überschreiten und wieder in jenen fiktiven Einklang eintreten zu können, aus dem wir am Ausgangspunkt unserer Gattungsgeschichte getreten sind.

Infolgedessen kann es durchaus vorkommen, dass das, was wir bisher immer auf eine bestimmte Weise gehört haben, plötzlich anders klingt, vielleicht weil wir in einer anderen situativen Einbettung oder emotionalen Disposition eine andere Klangqualität an ihm wahrnehmen, zum Beispiel wenn wir plötzlich feststellen, wie angenehm oder ästhetisch schön es sich eigentlich anhört, wenn das Auto nicht anspringt, obwohl dies ja zunächst einmal bloß bedeutet, dass wir nicht damit fahren können.

Dass unsere Klangwahrnehmung in den allermeisten Fällen von der Zweckmäßigkeit zugerichtet ist, mit der wir Informationen einholen und bewerten, kann in bestimmten Momenten jenes andere Hören stimulieren, das nicht der utilitaristischen Signatur untersteht, die sich unserer Perzeption eingeschrieben hat. Es möchte frei sein von den Zwecken und den in ihnen kondensierten Zwängen. Hier entsteht jene Sinnlichkeit, die der Zweckverfallenheit entsagt. Sie auszubilden und zu genießen war stets das Schlüsselversprechen der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft. Und darin wiederum war das Kunstschöne stets Ideologie: Weil es behauptete, dass es einen gesellschaftlichen Bereich geben könne, der nicht von der kapitalistischen Ordnung durchherrscht wird, einen Freiraum, in dem wir von all dem zurücktreten können, dem unser restliches Leben komplett unterworfen wurde.

Die Geräuschkunst der Moderne
Für die künstlerischen Avantgarden der Moderne war daher das Geräusch ein probates Mittel, um sich in Szene zu setzen. Als ästhetische Strategie verwarf seine Disharmonie das Kunstschöne, in welchem es nur noch Ideologie, Lüge und ein Palliativ erblicken konnte. Der avantgardistische Furor schreckte die Friedhofsruhe bürgerlicher Subjektivität auf, die sich in harmonischer Kunst zu versenken wünschten. Für die jungen Avantgardist_innen war Kontemplation allerdings nur noch Realitätsverleugnung und Flucht. Also galt es, sie – aus bisweilen recht unterschiedlichen Motivationen, die aber oft zu ähnlichen Ergebnissen führten – aufzustören und niederzubrüllen. Nur so konnte das Publikum aufgeweckt werden, um es entweder von seiner alten Subjektivität – die Bestandteil des Falschen war – zu befreien oder wenigstens bis aufs Blut zu reizen und Reaktionen zu provozieren, die wiederum den barbarischen Kern dieser Subjektivität freilegten. Bildungsbürgerliche Kunstbetrachtung behauptete, die Barbarei suspendiert zu haben, verdeckte sie aber bloß, denn in jenem Alltag, den Kunst zu suspendieren hatte, war sie noch immer überdeutlich auszumachen. Der Kunstgenuss löste sie ja bloß vorübergehend in Humanität, „Werte“ und innere Teilhabe auf – und hatte damit eine wichtige Entlastungsfunktion. Diese Selbsttäuschung galt es auffliegen zu lassen. Und das ging natürlich am besten durch den Entzug von all dem, was an Kunst beruhigte und aussöhnte: Harmonie, Schönheit, Verklärung, Sublimation usw. Das alles wurde durchgestrichen oder mit dem Sound bürgerlicher Wirklichkeit überschrieben: dem Radau, Tumult und der Aggression, die das ökonomische Zusammenleben der bürgerlichen Subjekte prägte.

Der möglichst schrille, möglichst dissonante Lärm war seit der Wende zum 20. Jahrhundert Chiffre für Modernität und Gegenwart. Er entsprach der Stadt als Erfahrungswelt und als verdichtete Welterfahrung. In ihr erlebte die intellektuelle Avantgarde der 1920er Jahre eine schroffe Erfahrungsumkehr, wie sie sich zum Beispiel aus den Biografien des deutschen Expressionismus herauslesen lässt: Die meisten seiner Protagonist_innen waren (in der Regel recht privilegiert) in den beschaulichen und überschaubaren Verhältnissen ländlicher oder kleinstädtischer Umgebungen aufgewachsen. Studium und der Wunsch nach künstlerischer Betätigung hatten sie dann in die großen Städte verschlagen. Und die verursachten bei ihnen einen Kulturschock: Überreizung der Sinne, Beschleunigung, sozialräumliche Verdichtung und – ein Schlüsselbegriff der ästhetischen Moderne – „Simultaneität“.

Und dergestalt kehrte die Stadt auch in ihren Werken wieder: als Lärmschauplatz, in dem die Erscheinungen und Eindrücke dissoziativ, anti-illusionistisch und grell zusammenprallen. Im Subjekt lösen sie eine simultaneistische Flut ambivalenter Empfindungen aus: Angst und Lust, Masse und Vereinsamung, Stillstand und Geschwindigkeitsrausch, Ekstase und Kommunikationsverlust, Erregung und Anonymität, Fülle und Elend, Vitalität und Todessehnsucht – in derartigen Gegensatzpaaren fasste die ästhetische Moderne ihr Erleben zusammen. Die Stadt war weder schön noch hässlich, sie war alles gleichzeitig, durch- und übereinander und deswegen vor allem: intensiv. Und diese Intensität war nur geräuschhaft zu fassen: als Kakophonie der in ihr akkumulierten Widersprüche.

Und weil das Geräusch als komprimierte Information immer schon literarisch war, tat sich die Dichtkunst am leichtesten, es abzubilden, z.B. in den Prinzipien der Onomatopoesie, der Lautmalerei, die versucht, Klänge und Klangerfahrungen sprachlich wiederzugeben. Die Musik dagegen – als gebändigte Klangkunst – verfügte noch kaum über die Gestaltungsmittel, moderne Geräuschwelterfahrungen darzustellen. Die Klangkünstler_innen des futuristischen Bruitismus mussten sich erst einmal geeignete Instrumente konstruieren (am bekanntesten wohl Luigi Russolos „Intonarumori“).

Aber mittels Amplifikation und Elektronik entstand schon bald die (technische) Möglichkeit, Klänge ausgesprochen filigran zu modellieren und found sound objects – klangliche Wirklichkeitselemente – als musikalisches Material zu bearbeiten. Es konnte als Störgeräusch symbolisch integriert oder mit dem Synthesizer und später am Rechner in verschiedenen Tonhöhen moduliert und gespielt werden wie (synthetische) Geigen.

Die zeitgenössische Musik ebenso wie die Klanginstallationsformen der modernen Kunst (begleitet von der Scoreästhetik des Films) haben das ästhetische Hören jedoch zu einer stark differenzierten Form von Informationsvermittlung gemacht: Das Geräusch ist uns als ästhetisches Zeichen längst wohlvertraut. Wer heute damit künstlerisch arbeitet, ist meist an anderem interessiert als an Provokation oder der akustischen Wiedergabe des Großstadtraums, wie dies noch Walter Ruttmann 1930 für sein Klangbild „Weekend“ vorschwebte.

Im Bereich der digitalen Kunst und Kultur erscheint es nicht mehr als Darstellungselement mit eindeutiger Vermittlungsintention, sondern als die bewusste und nuancierte Gestaltung einer umfassend technisierten Lebensumwelt, die ganz eigene Klangstrukturen und -charakteristika aufweist.
Sound wird dabei als Informationsträger verstanden, ohne ihm schon einen bestimmten informationellen Gehalt zuzuordnen. In einer Welt, in der Technologie eine immer größere Varianz und Gestaltbarkeit akustischer Umräume ermöglicht, bedarf es nämlich vor allem einer nüchternen Betrachtung der Klänge, in denen sich diese uns sinnlich darbietet.

Klangregime und akustische Gebrauchsanweisung: Wie uns Klänge mit Räumen in Verbindung setzen
Wo digitale Kunst und Kultur mit klanglichem Material arbeitet – was sie ja nicht nur im Bereich der avancierten elektronischen Musik tut – kann sie es allerdings nicht mehr einfach nur als akustische Erfahrungstatsache begreifen, wie dies noch die klassische Avantgarde getan hat. War der Lärm, den die Künstler_innen des frühen 20. Jahrhunderts gemalt, aufgeschrieben oder komponiert haben, noch das Produkt akustischer Zufälle, eine anomische Gewalt, deren Qualität gerade im Ungeordneten bestand (mit der die klassischen ästhetischen Ordnungsprinzipien überwunden werden sollten), sind die Geräusche der Gegenwart immer bereits das Ergebnis von bewusstem Sounddesign. Das bedeutet auch, dass in unseren Klangumgebungen – die wir als Geräuschproduzent_innen und als Geräuschkonsument_innen aktiv mitgestalten – Sounds (jenseits vom freilich noch immer virulenten Straßenlärm) Absichten unterliegen und Intentionen transportieren. Sie veranlassen uns dazu, Dinge zu tun oder zu lassen, schrecken uns ab oder laden uns ein, zu partizipieren.

Dergestalt ist die digitale Kunst wo sie sich mit „Sound“ beschäftigen möchte immer wieder auf die Frage verwiesen, wer mit welchem Interesse akustische Signale überhaupt erzeugt (oder unterbindet), und wer sie zu welchem Zweck in öffentliche (oder private) Räume einspeist: Welche Räume werden überhaupt akustisch gestaltet, und welche bleiben sich selbst (und damit ihrem Eigenklang) überlassen?

Das Öffnen oder Schließen von Räumen durch Klänge wirkt dabei viel unmittelbarer als andere, explizitere Formen des Zutrittsreglements: Von der akustisch unterlegten TV-Doku bis zur Fahrstuhlmusik, vom Kaufhaus-Muzak bis zur Telefonwarteschleife richtet sich das Sounddesign ganz unmittelbar an unsere Gefühle und Wahrnehmungen, die es kontrollieren möchte. Dabei bemerken wir die zugrunde liegende Absicht oft gar nicht, obwohl wir spüren, wie sie auf uns wirkt: Hintergrundmusik beruhigt uns oder wühlt uns auf und ruft dadurch erwünschte Emotionen hervor oder verstärkt sie, unerwünschte werden hingegen abgeschwächt oder blockiert. Und das gelingt ihr gerade weil wir sie selbst gar nicht (mehr) hören – und uns so auch die Frage nicht (mehr) stellen können, warum sie da ist und was sie mit uns vorhat.

Auf diese Weise unterwirft uns die interessengeleitete Evokation sinnlicher Erfahrung ganz unmerklich den staatlichen oder privatwirtschaftlichen, pragmatischen oder ideologischen Steuerungsinteressen, die uns nicht bewusst werden können, weil sie sich unterschwellig und vorbewusst vollziehen. Dennoch: In derselben Weise wie sich in der Architektur von Gebäuden Herrschaftsinteressen bezeigen, die auf diesem Wege lebensweltlich etabliert und verinnerlicht werden, instruieren uns Klangräume, wie wir uns (in ihnen und überhaupt) zu verhalten haben und was wir dabei empfinden sollen. Sie geben also nicht nur ortspezifische Handlungsanweisungen, sondern üben allgemeine Verhaltensstandards ein.

Damit ist Klangdesign Bestandteil eines Konditionierungsprogramms, das sich auf fast allen sensorischen Ebenen an uns vollzieht. Wir müssen uns daher also fragen, wer die Klänge, die uns umgeben, erzeugt, auswählt und einsetzt, und welche Verhältnisse in ihnen geschaffen oder perpetuiert werden. Auf die Umwelten, die uns das öffentliche Soundregime verordnet, sind wir in unserem Alltag ja durchaus angewiesen, ob wir dies wollen oder nicht: Infrastruktureinrichtungen, Verwaltungsgebäude, Ladenkomplexe usw. begegnen uns als Klangsignaturen, in denen die Interessen derer „mitschwingen“, die sie errichten.

Unsere unterbewusste Adressierbarkeit durch Klänge hat auch damit zu tun, dass wir – nicht zuletzt im Vollzug von Musikgeschichte – bestimmte Muster von Klangwahrnehmung habitualisiert haben. Gewohnheitsmäßig ordnen wir Klängen z.B. Stimmungen zu, die diese dann ohne äußeren Anlass in uns hervorrufen können, genauso wie ein bestimmtes Musikstück ganz unvermittelt die Erinnerung an eine vergangene Liebe zurückbringen kann. Dabei scheint die Verknüpfung von Klangereignissen mit Emotionen ausgesprochen stabil zu sein – zumindest innerhalb desselben kulturellen Referenzrahmens. Und ohnehin hat westliche Musikkultur (ob als klassischer Kanon oder als globalisierte Popkultur) ja längst eine bestimmte Form von Subjektivität weltweit durchgesetzt, so dass in der Gegenwart so gut wie alle Kulturen, mit „unseren“ Ohren hören, weil sie „unsere“ Musik hören.

Noch immer beschreiben wir Musikstücke mit hoher Übereinstimmung als „traurig“ oder „fröhlich“, „schwermütig“ oder „leicht“, „aufwühlend“ oder „beruhigend“, je nachdem, welche konkreten Klanginformationen sie enthalten. Dabei ist jedoch nicht nur eine bestimmte Assoziation von Gefühlserlebnissen mit Sounds oder Tonfolgen erlernt. Bereits die Möglichkeit einer solchen Verbindung ist Bestandteil unseres kulturellen Erbes. Dass Musik emotionale Qualitäten besitzt, ist eine Vorstellung, die uns durch andere künstlerische Formen, die Musikerfahrung thematisieren, beigebracht wurde, und zwar in einem Ausmaß, dass es dem Alltagsbewusstsein absurd erschiene, den emotionalen Gehalt von Musik in Frage zu stellen.

Unsere Klangwahrnehmung wird also nicht nur durch konkrete Klangerfahrungen geprägt, sondern ebenso durch sekundäre Zeugnisse, denen wir entnehmen, was (und wie) Musik bedeutet – dies können etwa Gedichte sein (die z.B. Natur in Klangbildern beschreiben) oder pädagogische Texte, die vor den Gefahren des Rock’n’Roll warnen, Bilder, Inszenierungen, Filme, Plattenrezensionen oder Konzertberichte. Sie alle informieren uns darüber, wie andere auf Töne reagieren. Auf diese Weise lernen wir, dass uns bestimmten Tonkombinationen oder Klangbilder rühren, während der Baulärm aus der Nachbarschaft uns auf die Nerven zu gehen hat.

In derselben Weise wie Gefühle nur konventionelle Muster darstellen, die wir im Prozess der Sozialisation von den Anderen erlernt und infolgedessen internalisiert haben, ist auch die emotionale Repräsentationsleistung der Klänge Bestandteil jener kulturellen Matrix, in der wir leben und die sich über uns reproduziert, z.B. indem wir unsere Hörgewohnheiten an unsere Kinder weitergeben, die von uns lernen, dass eine bestimmte Tonfolge Freude und Gemeinschaft, eine andere Traurigkeit und Verlassenheit symbolisiert, und zwar so gut, dass allein ihr Erscheinen in uns das betreffende Gefühl evoziert, selbst wo es weder unserer Gestimmtheit noch der Situation angemessen ist.

Performatives Sounddesign: Wie wir uns durch Klänge selbst erfinden können
Weil Musik als die künstlerische Gestaltung und Verwaltung von Emotionen dies vermag – und das mithin unmittelbarer und eindrücklicher als andere ästhetische Disziplinen – beinhaltet sie eine besondere Macht zur Manipulation. Diese wird nicht nur – im oben beschriebenen Sinne – von den gesellschaftlichen Institutionen genutzt, die uns über spezifische Klangdesigns adressieren und steuern. Auch wir selbst verfügen über die Fähigkeit, eine gewünschte Atmosphäre klanglich herzustellen, Intimität oder Unverbindlichkeit zu schaffen, indem wir eine bestimmte Platte auflegen. Wir wissen sehr gut, dass Grindcore nicht die passende Untermalung für ein Candlelight-Dinner darstellt und greifen stattdessen lieber zu Balladensammlungen, die z.B. „Kuschelrock“ heißen.

Dass und wie wir unsere Gefühle und die unseres Gegenübers durch Sound beeinflussen können, erscheint uns so selbstverständlich, dass es trivial wirkt, hier eigens darauf hinzuweisen. Dennoch zeigt die Tatsache, dass wir nicht nur die Regisseur_innen unseres Alltags sind sondern ebenso dessen Soundtrackkomponist_innen, inwieweit wir verstanden haben, wie und auf welche Weise die Zuordnung von Bedeutungen zu Klängen erfolgt (ohne dieses Wissen freilich verbalisieren zu können) – und was diese über uns aussagen.

Die klangästhetische Manipulierbarkeit unseres Bewusstseins ist allerdings keineswegs bloß einseitig zu verdammen. In ihr liegt auch ein utopischer Aspekt begründet: Das Artifizielle unserer Emotionen widerspricht nämlich durchaus der Annahme eines authentischen Subjekts. Wo wir uns der Konstruiertheit unseres Innenlebens bewusst werden, entwinden wir uns jener „Natürlichkeit“, die dem abendländischen Menschenbild zufolge über uns verhängt ist. Statt bloß der oder die sein zu müssen, der oder die wir nun mal sind, gewinnen wir uns selbst zurück. Die Heteronomie des autonomen Subjekts, das andere für uns entworfen haben, wird darüber zur Autonomie des Nichtauthentischen. Weil wir bloß prozesshaft gestaltet sind statt immer schon festgelegt zu sein, können wir in jene Prozesse eingreifen, die uns zu dem machen, was wir sind. Wir müssen dann nicht mehr ohnmächtig wir selbst sein, sondern erschließen uns Handlungsspielräume und Interventionsmöglichkeiten, wie es die Gendertheorie beispielhaft für den Bereich der Geschlechteridentität gezeigt hat.

Der klangästhetische Zugriff auf Wahrnehmung und Bewusstsein lässt sich also durchaus als Möglichkeit begreifen, uns selbst zu modulieren und über bewusst ausgewähltes sinnliches Erfahrungsmaterial in die Konstruktionsprozesse einzugreifen, in denen wir das werden, was wir sind. Klangdesign enthält damit also auch ein emanzipatorisches Potential. Um sich dieses Mittels jedoch im Sinne unserer jeweils individuellen Wünsche und Anliegen bedienen zu können, müssen wir zunächst einmal verstehen, wie Klänge Subjektivität stimulieren und beeinflussen.

Das sechste paraflows Festival hat sich daher eine Reihe von Fragen vorgelegt: Wir wollen herausfinden, auf welche Weise(n) überhaupt Räume mit Klängen verbunden werden und danach fragen, wie diese Verknüpfung nicht nur den Raum, sondern ebenso den Klang verändert. Lässt sich zum Beispiel Mozart im Wissen darum, dass seine Musik in Bahnhofskomplexen dazu eingesetzt wird, unerwünschte Randgruppen zu vertreiben, noch genauso hören wie früher? Oder verändert sie sich durch die soziale Praxis, die sie verwertet? Und kann sie überhaupt noch von jenen Interessen getrennt werden, die sich ihrer bedienen? Welche Qualität seiner Musik soll überhaupt ihre Eignung als Abschreckungsmedium ausmachen und wie verbindet sie sich mit ihrem (neuen) Zweck? Was genau an der klassischen Musik vertreibt die Junkies eigentlich (und hilft so dabei, das Elend des Spätkapitalismus unsichtbar zu machen): die von ihr geschaffene Atmosphäre, die konkrete ästhetische Form oder die daran geknüpfte soziale Praxis, die sich in ihr über die Jahrhunderte hinweg sedimentiert hat?

Dies wiederum führt zu der allgemeine Frage, auf welchem Wege die Bedeutungszuordnung von Klängen erfolgt. Bislang wurde sie weder musiksoziologisch noch kognitionspsychologisch zufriedenstellend beantwortet.
Wie bedeutet eigentlich Klang, worin liegt sein semantisches Verweispotential und wie entnimmt das Ohr ihm diese Bedeutung, die in einem offensichtlichen Widerspruch zum romantischen Klischee von der höchsten - weil am wenigsten referentiellen - Kunstgattung steht?

Wie kann überhaupt Wahrgenommenes die Wahrnehmung verändern, und wie lässt sich dieses Wissen emanzipatorisch nutzen, z.B. im Rahmen der digitalen Kultur? Müsste diese, wo sie sich der Klänge bedient, nicht ganz anders klingen, als es der traditionell durchherrschte öffentliche Raum tut? Gibt es einen spezifischen Sound des Öffentlichen und des Privaten? Wie klingt „Freiheit“ und wie „Zwang“? Und wo wurden diese Fragen bereits musikhistorisch, psychologisch oder im Rahmen sozialer Experimente bearbeitet?

Unter diesen Prämissen beschäftigen wir uns mit den konzeptuellen Voreinstellungen von Klangkunst: Unter welchen sozialhistorischen Bedingungen entsteht sie, was sind ihre technologiegeschichtlichen Voraussetzungen und welcher Kunstbegriff liegt ihr zugrunde? Aktuell lässt sich eine starke Ausdifferenzierung klangkünstlerischer Ansätze beobachten. Sie vermischen sich auf der einen Seite mit der Popkultur (etwa im Feld der avancierten Elektronik), auf der anderen Seite adaptieren sie Herangehensweisen, die sich an abbildungsästhetischen oder abstrakten Prinzipien der Malerei orientieren. Gerade aus dieser ambivalenten Zwischenlage zwischen Kunst und Musik lassen sich Schlüsselprobleme zeitgenössischer Kunstproduktion thematisieren. Dazu gehört das schwierige Verhältnis von Autonomieästhetik und sozialpolitischen Gestaltungsinteressen, und von Spektakel und Publikum, das sich in den elitären oder selbstgenügsamen Duktus vieler Klanginstallationen übersetzt hat. Statt aktiv in den öffentlichen Klangraum einzugreifen, begnügen diese sich leider allzu oft damit, als Kunst zu verblüffen oder zu befremden, als Spielerei zu erstaunen und als postmoderner Bild-Ersatz im Museum eine Platzhalterfunktion zu erfüllen.

paraflows .6 möchte daher zunächst einmal fragen, welche Annahmen über das Hören und Erzeugen von Klängen überhaupt der Klangkunst zugrunde liegen und welche Abbildungsverhältnisse sie enthalten. Wo reproduzieren sie lediglich klassische Annahmen über das Wirklichkeitsverhältnis der Kunst, und wo greifen sie tatsächlich – nämlich auf der Konstitutionsebene – in diese Wirklichkeit ein?

Im Zusammenhang mit den Urheberschaftsdebatten innerhalb der Musikindustrie ergibt sich zudem die Frage, wem Klänge, Klangfolgen und Klangfarben überhaupt gehören und wie dieser Besitzanspruch ihnen aufgeprägt werden kann. Wie können Sounds in Besitz übergehen bzw. genommen und dadurch für Andere gesperrt werden? Und vergrätzt Mozart schon deswegen die Besitzlosen aus den Shoppingmall-Bahnhöfen, weil seine Musik traditionell denen gehört, deren Privilegien im Besitz gründen?

Kulturelle, ökonomische und technische Verhältnisse schreiben sich – wie wir gesehen haben – unserer Klangwahrnehmung und -verarbeitung als spezifische Form der sinnlichen Vermittlung von Welt ein. Wir synchronisieren uns mit den Anderen, indem wir lernen, Klänge zu verstehen, uns also die Fähigkeit antrainieren, akustische Signale zu entschlüsseln. Im Hören erkennen wir sie als bedeutungsvoll. Selbst wo sie autonom gesetzt sind und nur für sich stehen sollen (worauf bestimmte kompositorische Ansätze gerade abstellen), transportieren sie Ideen und Vorstellungsbilder (z.B. solche von Autonomie und Freiheit), die selbst nicht unabhängig von den herrschenden Formen der Vergesellschaftung entstehen.

Die Repräsentationsfunktion des Klanglichen in der abendländischen Kultur eröffnet jedoch auch ein ästhetisches Spielfeld, auf dem Klänge und klangvermittelte Ideologien dekonstruiert werden können (so wie der amerikanische Geheimdienst einst für Hitler plante, dessen Stimme durch weibliche Hormone, die seinen Speisen zugesetzt wurden, höher und damit unmarkiger zu machen - was leider nicht gelang), etwa indem der Verweiszusammenhang aufgebrochen und ein Klang neu kontextualisiert wird. Dies steht in Verbindung mit der Frage, wie wir in einer von Klängen (und durch sie: von fremden Herrschaftsinteressen) konfigurierten Welt agieren können, ohne uns von diesen Klängen (und Interessen) immer schon vorschreiben zu lassen, wie und wo wir sie hören sollen. Wie können wir uns die Klänge dieser Welt aneignen?

Daher stellt sich für uns als digitale Kunst und Kultur die Frage: Wie verändert sich die Wahrnehmung wenn wir die Klänge verändern – und gezielt manipulieren? Und wie müssen wir Klangräume gestalten, damit sie unsere Wahrnehmung verändern können? Wie sähe überhaupt eine herrschaftsfreie Musik aus? Und wie klingt herrschaftsfreier Raum?

Dies zu klären ist für die digitale Kultur von besonderem Interesse, weil sie als solche über viel größere Zugriffsmöglichkeiten auf Klänge verfügt als frühere gegenkulturelle Milieus. Sie kann nicht nur Klangoberflächen gestalten, sondern ebenso auf die Quellcodes des Sounds zugreifen, kann ihn besser, schneller, genauer und gründlicher manipulieren und gestalten. Zudem ist es mit digitaler Soundtechnik möglich geworden, künstliche Klänge zu erzeugen, die sich von der Außenwelt und ihrer konkreten klangräumlichen Beschaffenheit befreit haben, die also in einer ganz neuen Weise autonom, non-idiomatisch oder referenzlos und damit vielleicht noch nicht durchherrscht sind. Auf diese Weise fließen der digitalen Kunst und Kultur neue Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten zu, die wir nicht unter Verschluss halten dürfen, sondern gemeinsam erkunden und im Sinne der Open-Source-Utopie allen zugänglich machen müssen, um zu einem partizipatorischen Wirklichkeitsverhältnis zu gelangen. Denn wenn - wie Nada Brahma konstatierte - die Welt Klang ist, können wir sie nur verändern, indem wir den Klang verändern.

Frank Apunkt Schneider / Günther Friesinger