OPEN CULTURE

Open Culture
Wie wir Kultur öffnen können und warum wir sie öffnen müssen



Open Cultures

Das Schlagwort von der „Open Culture“ umgreift eine Vielzahl heterogener Konzepte, die sich nicht ausschließlich auf das Netz bzw. die digitale Kultur reduzieren lassen: die Open-Source-Bewegung, der Open-Access-Gedanke, die Diskussion um so genannte „Commons“, der Kampf gegen regressive Copyrights, „Wikileaks“, die Hacker_innen-Szene, bestimmte künstlerische Interventionen und ästhetische Praxen (etwa die der DIY-Kultur), Peer-Production, Blogs und Desktop Publishing.

Aber auch der Widerstand gegen die Standardisierung und Entdifferenzierung von Saatgut in der EU, auf die vor allem der Monsanto-Konzern hinarbeitet, richtet sich gegen kulturelle Schließungen, nämlich gegen eine künstliche Verknappung der Artenvielfalt. „Open Culture“ muss also nicht auf „digitale“ Gegenstände beschränkt bleiben, obwohl auch in diesem Fall das Netz eine Rolle spielt, und zwar als jener Ort, von dem aus am effektivsten gegen das neue EU-Saatgutrecht vorgegangen werden kann, u. a. durch Onlinekampagnen, die via Blogs, social media-Plattformen, Mail oder Twitter verbreitet werden.

All diese Kämpfe formulieren in der einen oder anderen Weise den Anspruch auf informationelle Barrierefreiheit und auf eine demokratische Kultur mit niedrigschwelligen Zugangsvoraussetzungen. Der freie Zugang zu Technologie, Kultur und Information wird dabei als Alternative zum kapitalistischen Verwertungsprinzip entworfen. Von der offenen Kultur könnte eine freie Gesellschaft freier Subjekte ihren Ausgang nehmen, auch wenn über diese bisweilen sehr unterschiedliche Vorstellungen innerhalb dieser diffusen multiplen Bewegung existieren: vom technokratischen Liberalismus bis hin zum „Cyberkommunismus“.

Gerade in ihrer Widersprüchlichkeit formieren die Konzepte, Positionen, Strategien und Strukturen der offenen Kulturszene ein Feld, das um Praxen der Öffnung und der Partizipation herum entstanden ist – ein Beziehungsgeflecht, das sich immer weiter verzweigt und dabei in sich selbst doch auch offen bleibt: durchlässig, wie es Netzwerke nun einmal sind. Die offene Kultur wird ihren eigenen Ansprüchen zumindest insofern gerecht, dass sie zur Teilnahme auffordert und die Zugänge zu ihr offen hält. Sie stellt auf Inklusion ab, nicht auf Exklusivität. Und sie hat bislang noch keine geschlossene Formen oder Begrenzungen ausgebildet. Noch wächst sie und verändert sich dabei immer wieder. Sie befindet sich im Werden – mit offenem Ausgang.

Offene Kultur besitzt kein Zentrum. Sie entspricht vielleicht dem, was unter dem Begriff der „Multitude“ verhandelt wird: einem Geflecht aus „Singularitäten, die gemeinsam handeln“, wie es bei Michael Hardt und Antonio Negri heißt.

Anders als klassische Alternativkulturen hat „Open Culture“ nicht die Absicht, einen bestimmten Raum einzunehmen oder eine Nische zu besetzen, die dann als Gegenentwurf der falschen oder entfremdeten Form der bürgerlichen Kultur entgegentritt. „Open Culture“ möchte diese vielmehr infiltrieren, um sie von innen heraus zu verändern. Und sie möchte uns in die Lage versetzen, ihre Werkzeuge und Kanäle besser zu verstehen und selbstbestimmt zu handhaben.

Dabei ist „Open Culture“ keineswegs eine Erfindung des digitalen Zeitalters. Die Idee, die kulturellen Produktionsmittel umzuverteilen bzw. allen gleichermaßen zugänglich zu machen, taucht in der bürgerlichen Kulturgeschichte immer wieder auf, zum Beispiel Ende der 1970er innerhalb der „Do it yourself“-Bewegung des Punk und Postpunk. Unabhängig voneinander brachten damals Bands wie Scritti Politi oder die Desperate Bicycles selbstproduzierte Schallplatten in Umlauf, auf deren Hüllen die Produktionskosten genau aufgeschlüsselt waren. Dazu gaben sie Tipps und Adressen günstiger Presswerke. „It was easy/It was cheap/Go on, do it“, heißt es im Refrain von „The medium was the tedium”, einem programmatischen Stück der Desperate Bicycles. Viele der mehreren hundert Gruppen, die wenig später ihrem Beispiel folgten, verwiesen dabei ausdrücklich auf diese Platten: als Inspirations- und als Informationsquelle. Der DIY-Bewegung ging es vor allem darum, kulturelle Produktion zu dezentralisieren und kulturelle Hegemonien zu durchbrechen. Sich Produktionsmittel auf diese Weise anzueignen, war also immer zugleich eine symbolische Intervention in kulturelle Besitzverhältnisse und eine praktische Anregung, selbst produktiv zu werden

Die Sehnsucht nach „geöffneter Kultur“ ist also im Prinzip ebenso alt wie die Idee des Privateigentums an Medien und Technologie, die mit der bürgerlichen Gesellschaft entstand und in Patent- und Urheberrechtstiteln verankert wurde. Allerdings bietet erst die digitale Gegenwart technische Möglichkeiten um sie umfassend zu realisieren. Waren die selbstproduzierten Singles des englischen Postpunk noch ein klassisches Nischenprodukt, das kaum Chancen auf Breitenwirkung und Hitparadenerfolg hatte, ist Digitalisierung längst in jedem Haushalt angekommen. Die Einführung des Computers als gesellschaftliches Leitmedium – zumindest innerhalb des westlichen Kulturraums – und die Verflechtung privater Rechnerkapazitäten zu einem weltumspannenden Netzwerk und einer globalen Austauschplattform verändert die gesamte kulturelle Praxis: Produktion, Distribution und Rezeption.

Denn erstens befinden sich die kulturellen Artefakte auf dem Weg von der feststofflichen Form, die über die Jahrhunderte hinweg ihre Existenz- und Erscheinungsweise war (als Buch, als Tonträgerin oder als bildkünstlerisches Werk), in die digitale Abstraktion (als Datenformat). Dies hat Folgen für das Kunstwerk selbst, für die ihm zugrunde liegenden Werk- und Kunstbegriffe, für seine Wahrnehmung, für seine Verfügbarkeit und schließlich auch für jene kulturellen Praxen, die es konstituiert.

Damit verändert sich zweitens aber auch die Kultursphäre als Raum spezifischer Ex- und Inklusion. Die althergebrachte Form der Kulturgüter war immer an die konkrete Objektgestalt verwiesen, in der diese erschienen. Als Objekte konnten sie in materielle Besitzverhältnisse überführt und zum Beispiel in privaten Sammlungen der Allgemeinheit entzogen werden. Wer sich unerlaubterweise Zugang zu ihnen verschafft, um etwa bestimmte Originale einmal selbst in Augenschein zu nehmen, übertritt Gesetze, die für Alte Meister in exakt derselben Weise gelten wie für alle anderen Wertgegenstände. Beides ist juristisch Gegenstand der Privatsphäre, die wiederum ein schützenswertes Rechtsgut darstellt.

Die Digitalisierung verwandelt also die Kultur in vielfacher Weise, vor allem aber hinsichtlich ihrer Verfügbarkeit und der Partizipationsmöglichkeiten, die sie bietet.

Weil das digitale Zeitalter also im Begriff steht, die gesamte kulturelle Sphäre zu öffnen, müssen wir uns die Frage stellen, inwiefern dies denn überhaupt wünschenswert ist und, wenn ja, wie wir den Zugang offen halten können. Wie können wir die Emanzipationsmöglichkeiten, die die digitalisierte Kultur erstmals auf breiter Front bereitstellt, verteidigen und entfalten?


Der Egalitarismus der Geräte

Die alten kulturellen Besitzobjekte stellten auf eine bestimmte Rezeptionspraxis ab, die sich im privaten Raum vollzog, in dem sich der persönliche Besitz an Kulturgütern unter Ausschluss der Öffentlichkeit genießen ließ. Rezeptionspraxis und Objektform der Kultur waren eng miteinander verbacken – und sind es bisweilen noch immer: Die bürgerliche Hausordnung räumt der privaten Inszenierung entsprechender Sammlungen (von Büchern, Schallplatten oder Bildkunstwerken) eine besondere Bedeutung ein. Im Zugriff auf Kultur erzeugt sich jener Klassenhabitus, der zur spezifischen Warenform des bürgerlichen Subjekts gehört. Die gut sortierte Bibliothek ist Ausweis von Belesenheit und bestimmter kultureller Präferenzen. In ihr zeigt sich der besondere Wert, den wir der Kultur beimessen. Also platzieren wir sie gut sichtbar im Wohnzimmer statt sie so zu verstecken, wie es digitale Medien mit den auf ihnen gespeicherten Daten und Programmen tun. Das iPad unseres Gegenübers im Zug verrät uns nämlich niemals, was darauf gerade gelesen wird: „Schund“ oder Dostojewski, Geschäftstabellen oder Fußballergebnisse … Seine Rückseite bleibt – anders als der Buchrücken – stumm.

Digitale Speichermedien implizieren also in einer gewissen Weise bereits ihrer Form nach einen Bruch mit der tradierten Distinktionspraxis des (bildungs-) bürgerlichen Subjekts. Gegen dessen Selbstvergewisserung durch Plattenschrank oder Bibliothek setzen sie den Egalitarismus der Geräte. Soziokulturelle Hierarchien konstituieren diese nämlich allenfalls noch hinsichtlich ihrer Leistungsfähigkeit und Aktualität, nicht mehr aber durch die auf ihnen abgespeicherten Inhalte. Zumindest wirken sie nicht mehr in der gleichen Weise Respekt einflößend wie ein gut gefülltes Bücherregal.

Digitale Kulturwarendistribution (wie Filesharing oder die Komplettüberspielung ganzer Film- und Musikarchive per Wechselfestplatte) überschreitet den Raum des Privaten, der ein zentrales Merkmal der bürgerlichen Subjektivität ist. Und sie sprengt die Besitzform auf, von der aus sich die klassische Kulturware bestimmte. Begriffe, wie etwa der von ihrer „Aura“, die ihre originäre und einmalige Gegenwart verströmen soll, verklären sie zum metaphysischen Ding, zu etwas Religiösem, dem wir eine merkwürdige Macht über unsere Sinne zugestehen. Mit derlei Andacht bricht Digitalisierung. Und sie löst kulturell hergestellte Rangordnungen auf, etwa wenn Musik kostenlos heruntergeladen werden kann, die bislang nur teuer und auf entsprechenden Nischenmärkten (mit ihren in Spezialwissen basierten Zugangsvoraussetzungen) zu haben war. Plötzlich steht alles tendenziell gleichberechtigt im Netz und kann – sobald wir von seiner Existenz wissen – dort problemlos gefunden und abgerufen werden. Kulturelle Privilegien werden dabei eingeebnet, Ausschlüsse rückgängig gemacht. Was bislang nur in Form seltener und teurerer Originale verfügbar war, ist nun frei zugänglich. Kunstwerke, für deren Augenscheinnahme wir oft weit entfernte Museen aufsuchen mussten, können wir betrachten, ohne das Haus zu verlassen. Das Netz scheint das ideale Medium zu sein, um die menschliche Kultur zu speichern, zu verschlagworten und zu verwalten.

Walter Benjamin hat das emanzipatorische Potential vervielfältigter Kultur bereits 1936 in seinem berühmten Aufsatz über „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ beschrieben.

Reproduzierbarkeit wird oft schockhaft als Entzug bisher gültiger kultureller Wertesysteme erlebt: als Auraverlust der digitalen Kulturware gegenüber der analogen, etwa des mp3-Formats gegenüber der „wertigen“ Vinylschallplatte mit ihren sinnlichen Sonderqualitäten, oder des Buches gegenüber dem E-Book, was sich besonders prägnant an der Romantisierung alter Schwachstellen zeigt (Vinylgeknister, Geruch und Schwere des traditionellen Buches). Dies ist eine logische Folge der stark überhitzten und emotionalisierten Wahrnehmung von Kultur innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft. Kulturelle Kompetenz als bürgerliche Schlüsselqualifikation ist dabei immer an bestimmte Medientypen gebunden, und wo diese sich verändern, ist jene in Gefahr vom technischen Fortschritt überrollt zu werden.

Mithilfe der Digitalisierung schwindet nämlich nicht nur jene soziale Hierarchie, die sich im privaten Besitz kultureller Güter begründet, sondern ebenso die von Zentrum und Peripherie. Im Zeitalter allgemeiner Netzzugänge sind wir nicht länger gezwungen, uns mit dem kulturellen Angebot und Horizont unserer unmittelbaren Umgebung zu begnügen oder aufwändige und kostspielige Reisen an jene Orte zu unternehmen, an denen etwas stattfindet. Der kulturgeographische Vorteil des Zentrums wird damit zumindest partiell annulliert. Für Kulturproduzent_innen der Peripherie erhöht sich wiederum die Chance wahrgenommen zu werden, wie es das Beispiel des britischen Postpunk belegt: Bis Ende der 1970er mussten Bands nach London übersiedeln, wenn sie Platten produzieren und überregional bekannt werden wollten. Das führte dazu, dass der Rest des Landes popkulturell verödete. Erst mit dem Do-It-Yourself-Prinzip entstand auch in entlegenen Gegenden eine prosperierende Musiklandschaft.

In diesem Sinne war Technologiegeschichte immer auch eine der kulturellen Öffnung: Motorisierte Fortbewegungsmittel ließen Entfernungen schrumpfen; Verfahren der Bild- und Tonreproduktion vervielfältigten Kulturschätze und machten sie über große räumliche Distanzen verfügbar; Liveübertragungen via Satellit erlaubten es, Ereignissen auf der anderen Seite der Welt beizuwohnen etc. Jede neue Technologie enthält neue Möglichkeiten kultureller Partizipation, die aktiv oder passiv genutzt werden können. Die Digitalisierung hat all das nur beschleunigt. Sie ermöglichte jedoch nicht nur die Weiterentwicklung und Optimierung bereits bestehender Möglichkeiten, sondern markiert einen Quantensprung, von dem wir aktuell noch gar nicht abschätzen können, wohin er uns in den nächsten fünfzig Jahren führen wird.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt müssen wir davon ausgehen, dass die Art und Weise, wie Kultur produziert und rezipiert wird, sich in nur wenigen Jahren radikal verändert haben wird. Verschwinden wird dabei vor allem die alte Ordnung von Produktion und Rezeption, die aktive und passive Rollen zuweist. Die digitalen Rezipient_innen der Gegenwart verfügen über vielfältige Mittel, selbst zu Produzent_innen zu werden. Sie brauchen dafür weder spezielles Werkzeug noch eine besondere Ausbildung, sondern allenfalls ein wenig Geschick und etwas Grundlagenwissen. Soundprogramme, mit denen sich z.B. fremde Musik remixen lässt, gehören zur Standardausrüstung der letzten Rechnergenerationen, und wo nicht, können sie jederzeit aus dem Netz heraus installiert werden. Das Ergebnis können wir dort wiederum anderen zugänglich machen.

Digitale Kultur ist somit die aktuell triftigste Spielmarke einer alten Utopie geworden: die Schließungsmechanismen einer in Klassen und Schichten stratifizierten bürgerlichen Gesellschaft aufzulösen und sowohl die Produktion als auch die Rezeption von Kultur zu vergesellschaften. Dies stellt eine keineswegs triviale Intervention in jene bürgerliche Kultur dar, die trotz aller formalen Bekenntnisse zu Demokratie, Gleichheit und Aufklärung doch Jahrhunderte lang sehr unterschiedliche Zugangsvoraussetzungen zu Kultur und ihren Produktionsmitteln hervorgebracht hat und die ihre Subjekte mit ungleichen Handlungsmöglichkeiten, Sprecher_innenpositionen und Spielräumen ausstattet. In der Regel korrespondieren diese mit ihren Klassen-, Geschlechter- sowie ethnischen Positionierungen.

Digitalität ermöglicht dagegen neue und andere kulturelle (und damit: gesellschaftliche) Beziehungen, die nicht mehr zwangsläufig an bestimmte Privilegien und die Verfügungsgewalt über kulturelle Produktionsmittel (im alten Sinne) gebunden sein müssen. Neue Formen von Partizipation und Inklusion sind dabei entstanden, die Kollektivität da stiften, wo zuvor nur der rigide Konkurrenzkampf aller gegen alle am Werke war. In ihnen können wir unser digitales Zusammenleben offen und gemeinsam entwickeln (mit Rückwirkung auch auf seine analogen Formen). Dies war zuvor meist Einzelnen vorbehalten – seien es nun Wirtschaftsunternehmen (im Bereich der Technologieentwicklung) oder Künstler_innen (im Bereich der Kultur).

Nicht-profitorientierte Formen des (Aus-)Tauschs, wie sie die Netzkultur etabliert hat, wären als wichtige Erfahrungswerte und Modellsituationen für eine allgemeine und generelle Veränderung zu begreifen, statt sie nur in den Zusammenhang unseres individuellen Wunsches nach Zugriff auf möglichst umfassende Datenbänke zu stellen. Sie dürfen jedenfalls nicht blockiert werden, nur weil sie mit den Sonderinteressen Einzelner konfligieren.

Die digitale Kultur, die wir durch unsere Arbeit hervorbringen, muss also im Bewusstsein handeln, dass sie, was sie macht, nicht für sich selbst und die eigene Szene tut, sondern für alle. Die gesellschaftlichen Beziehungen, die sie dabei entwirft, sind durchaus verallgemeinerbar.


Absatzkrisen und Verteilungskämpfe: Zur ökonomischen Bedeutung des illegalen Downloads

Aus der Demokratisierung einer bis dato besitzbasierten bürgerlichen Kultur leitet die digitale Avantgarde jenes umstürzlerische Pathos ab, mit dem sie sich in ungezählten Foren, Blogs, im Umfeld des CCC oder an ähnlich definitionsmächtigen Orten inszeniert. Sie wird dabei vom Glauben getragen, dass freier Zugang zu jedweder Kultur (sowie deren unreglementierte Verbreitung) die herrschende Gesellschaftsordnung korrigieren könne. Digitale Aktivist_innen verstehen sich als Gegenmacht, als Robin-Hood-Gestalten, deren politische Interessensvertretung nicht von ungefähr „Piratenparteien“ sind. Dieses Selbstverständnis vermengt allerdings alte Mythen mit aufklärerischen Gehalten und partizipatorische Potentiale mit Bildern aus dem Fundus des bohemistischen Individualanarchismus oder des liberalen Fortschrittsoptimismus. Die zum Teil drastischen Folgen, die Datenpiraterie für die haben kann, die sich erwischen lassen, verleiht dem digitalen Widerstand gegen repressive Copyrights eine scheinbar selbsterklärende Militanz.

Die Grauzonen und -märkte, die entstehen, wo historisch ältere Regelements auf neue kulturelle Praxen treffen, die sie nicht zu erfassen vermögen, belegen, dass der digitale Aktivismus um die Gegenwart kämpft – im Unterschied zu den Angehörigen der politischen Klasse, die sich, wo sie sich zum Thema äußern, als digitale Know-Nothings disqualifizieren, weil sie sich widerstandslos die Forderungen der Unterhaltungsindustrie (z.B. nach besserem Zugriff auf User_innendaten) einflüstern lassen.

Das Unwissen und Ungeschick, mit dem sich bürgerliche Politiker_innen im digitalen Zeitalter blamieren, verhelfen der digitalen Utopie, das alles, was sich digitalisieren lässt, auch frei zugänglich sein müsste, zu Plausibilität und Überzeugungskraft. Die Versuche, die Freiheit im Netz noch einmal einzuschränken und allzu aggressive Protagonist_innen symbolträchtig abzustrafen (wie vor einigen Jahren den Sharehoster Megaupload) sind typische Rückzugsgefechte. Auch wenn sie sich noch ein paar Jahre hinziehen werden, stehen die, die sie führen, auf verlorenem Posten. Die kulturelle Praxis des Netzes lässt sich nicht mehr einhegen, um die Besitzprivilegien einiger weniger zu schützen, die zwar noch immer Einfluss, aber keinerlei überzeugende Argumente haben, die diesseits ihres Eigennutzes liegen, den sie noch einmal zu Lasten aller anderen bestätigt wissen wollen. Kulturelle Praxis und die Bedürfnisse von User_innen lassen sich rechtlich nicht eindämmen. Das zeigen die Prohibitionsprojekte der Vergangenheit: Alkoholprohibition, Illegalisierung von Drogen usw.

Wo die digitale Freiheit den Profitvorgaben der Unterhaltungsindustrie gemäß beschnitten werden soll, haben wir es ohnehin nur mit Entschleunigungskämpfen zu tun, die die nötige Zeit verschaffen sollen, um die Kulturwarenproduktion an die neue technische Situation anzupassen. Das wurde nämlich – keineswegs zum ersten Mal – solange versäumt, bis die Unterhaltungsindustrie darüber in jene Krise geraten ist, die sie nun nach drakonischen Maßnahmen verlangen lässt. Auf lange Sicht werden sie ihr freilich keinen Vorteil verschaffen.

Angesichts der aktuellen Absatzkrise bestimmter Kulturwaren kommen die „illegalen Downloads“ ihr sogar gelegen: als der dringend benötigte Sündenbock, der ihr hilft, von einem generellen Systemfehler abzulenken, nämlich jener Überproduktion, die die Krise der Musikindustrie mindestens ebenso stark bedingt wie das Hörer_innenverhalten im Netz. Noch nie wurden so viele CDs veröffentlicht wie heute, mit weiterhin steigender Tendenz; und das, obwohl die CD im öffentlichen Bewusstsein bereits zum sterbenden Medium erklärt wurde und die abgesetzten Stückzahlen kontinuierlich sinken. Obwohl sich ihre Produktion also immer weniger rentiert, wird der Markt nach wie vor überschwemmt – und infolgedessen immer unüberschaubarer. Die Nachfrage wiederum sinkt bekanntlich stets in dem Maße, wie das Angebot steigt.

Eine vergleichbare Situation war schon einmal in den späten 1970ern entstanden. Auch damals machte die Musikindustrie private „Raubkopien“ durch Audiokassetten für ihre Umsatzeinbussen verantwortlich. Die Psychologie nennt diese Strategie „externale Attribution“. Die „externale Attribution“ entspricht jener Egozentrik und Unreflektiertheit, die notwendige Systemeigenschaften von Akteur_innen auf kapitalistischen Märkten sind, weil nur sie den brutalen Konkurrenzkampf aller gegen alle sowie den katastrophalen Ressourcenverschleiß vor sich selbst rechtfertigen können, den unreglementierte Produktion nun einmal bedeutet.

Dank der billigen Leerkassette konnte geflissentlich übersehen werden, dass die Umsatzrückgänge eigentlich von Veränderungen auf dem Musikmarkt herrührten. Ende der 1970er waren dies die Weltwirtschaftskrise, der Boom unabhängiger Produktionen (nicht nur im Umfeld des Postpunk) und beschleunigte Trendwechsel, die viele One-Hit-Wonder hervorbrachten, die sich eben nicht über dauerhaften Erfolg refinanzierten.

Moralisierende Kampagnen wie das „Hometaping is killing music“ (das recht schnell zu „Homefucking is killing prostitution“ verballhornt wurde) sind wenig geeignet, „falsches“ Konsument_innen-Verhalten zu korrigieren. Ihre eigentliche Funktion besteht darin, eigene Schuld zu externalisieren. Nur auf diese Weise lassen sich aufgeblähte ökonomische Strukturen psychologisch aufrechterhalten, bis es dann eben doch zu spät ist. Zwanzig Jahre später hieß es dann in ähnlicher Manier: „10.000 gebrannte CDs vernichten eine Nachwuchsband“. Angesichts dessen, was den Hörer_innen an Nachwuchsbands z.B. im Marktsegment des „Alternative Rock“ zugemutet wurde, erschien vielen diese Perspektive durchaus verlockend, und die selbstgebrannten CDs setzten sich ebenso schnell und umfassend durch wie seinerzeit die private Kassettenüberspielung. Die Unterhaltungsindustrie der Gegenwart hätte also auch ohne die Möglichkeit, sich ihre Produkte gratis im Netz zu organisieren, Profiteinbussen zu verzeichnen, die direkt mit ihrer Veröffentlichungspolitik in Zusammenhang stehen. Fraglich bleibt allein, wen oder was sie dann dafür verantwortlich machen würde …

In der aktuellen Diskussion um Downloads und Filesharing wird zudem kaum je darüber nachgedacht, inwiefern beide allgemeine Veränderungen im ökonomischen Gefüge widerspiegeln: Sinkende Löhne und die Zunahme prekarisierter Beschäftigungsverhältnisse verknappen die Geldmenge immer weiter, die individuell für Kulturwaren ausgegeben werden kann. Formen ihrer Umsonstbeschaffung lassen sich nämlich auch als den (mithin verzweifelten) Versuch lesen, dies zu kompensieren und sich auch weiterhin mit Kultur zu versorgen, auch wo das Geld dazu eigentlich fehlt. Zudem ist der Erwerb popkultureller Kenntnisse längst nicht mehr ausschließlich Freizeitgestaltung. Als ökonomische Ressource und Humankapital des postfordistischen Subjekts spielen sie eine nicht zu unterschätzende Rolle im alltäglichen Konkurrenzkampf.

Das Zusammenschrumpfen gewaltiger Plattensammlungen nebst den dazu benötigten Abspielgeräten zu handlichen iPods macht das Runterladen zusätzlich attraktiv. In ihm spiegelt sich aber nicht ausschließlich die freiwillige Entscheidung für das handlichere und bequemere Format wider, sondern ebenso die neoliberale Anrufung der „Flexibilität“, die den sich verändernden Bedürfnissen des Kapitals nach mobiler Arbeitskraft Rechnung trägt. Per iPod können wir das Musikzimmer der alten bürgerlichen Kultur einfach mit uns herumtragen. Die Musikindustrie beklagt also letztlich die Effekte einer Entwicklung, deren Protagonistin sie selbst ist. Wer für große Plattenfirmen arbeitet, bekommt Flexibilisierung und Lohnrückgänge schließlich oft am drastischsten zu spüren (und meist früher als in anderen Branchen).

Die Digitalisierung arbeitet somit einer breiten materiellen Verelendung im so genannten „Informationszeitalter“ entgegen (die sie zugleich als Grundlage von Automatisierung und Outsourcing hervorgebracht hat). Mit ihrer Hilfe können wir uns auch unter veränderten postfordistischen Rahmenbedingungen ausgiebig mit Kultur beschäftigen. Die muss dafür eben nur ihre alte materielle Gestalt verändern und selbst flexibel werden.


Open Culture als kapitalistische Verjüngungskur


Die oben genannten Faktoren bleiben in den Klagen der Unterhaltungsindustrie um sinkende Marktanteile natürlich ausgeblendet. Ihre alte Form, die während der westlichen Boom- und Wirtschaftswunderphasen entstanden war, ist angesichts neuer Konsumbedürfnisse zum trägen Dinosaurier geworden. Und der muss über kurz oder lang aussterben, eben weil die freie Marktwirtschaft als darwinistischer Verdrängungskampf organisiert ist. Nichtanpassung kann sie daher nicht dulden. Dass Plattenfirmen verschwinden werden bedeutet nicht das Ende des Systems, sondern seine periodische Verjüngung. Die Vertreter_innen der ökonomischen Neoklassik haben es uns ja oft genug vorgebetet: Der Markt lässt sich weder überlisten noch durch politische Steuerungsversuche auf Dauer blockieren. Das wiederum bekommt die Unterhaltungsindustrie nun am eigenen Leib zu spüren. Wo die digitale Kultur also ihren Kampf gegen restriktive Copyrightreglements zum Systemkampf glorifiziert, hat sie ebenso wenig von dem verstanden, was sie bekämpfen will, wie die Vertreter_innen der Musik- oder Pornoindustrie, die gerade darin untergehen.

Die digitale Kultur ist, wo sie für den freien Download optiert oder alternative Modelle wie die so genannte „Kulturflatrate“ propagiert, lediglich jene kulturpolitische Avantgarde, die dem System zu seiner anstehenden Runderneuerung verhilft. Das Plädoyer für den freien Zugang zu Kultur, zu Wissen, Soft- und Hardware ist nicht antikapitalistische Subversion, sondern ein Selbstreinigungsprozess. Digitale Praxis, die Kopierschutze aushebelt, Daten und Programme in den freien Umlauf bringt und in kollektiver Programmieranstrengung anti-monopolistische Betriebssysteme entwirft oder geheime Dokumente der Öffentlichkeit zugänglich macht, trägt letztlich dazu bei, den drohenden Kollaps abzuwenden – auch weil sie damit die Arbeitskräfte von morgen ausbildet. Das Web 2.0 implementiert also keineswegs endlich die Basisdemokratie (auch wenn es einen Moment lang so aussehen konnte), sondern lediglich den „Kapitalismus 2.0“.

Wo die Unterhaltungsindustrie stur auf einem in der Vergangenheit profitablen Modell beharrt, hat sie keine Chance. Sie will lediglich ein altes Betriebssystem vor seiner Abschaffung bewahren, das mit dem Leben der Menschen und dem, was technisch möglich ist, nicht mehr kompatibel ist. In einem gewissen Sinne ist sie es, die sich subversiv verhält (gemeinsam mit jenen Politiker_innen und gesetzgeberischen Initiativen, die ihre Interessen politisch gestalten), während Netzaktivist_innen und Piratenparteien das System noch einmal vor sich selbst retten und zukunftsfähig machen.


Die offene Gesellschaft und ihre Kunst

Das paraflows-Festival für digitale Kunst und Kultur stellt daher 2013 den Begriff der „Open Culture“ zur Disposition um zu erörtern, welche subversiven und welche systemstabilisierenden Potentiale er enthält. Dazu bedarf es zunächst einer genauen Differenzierung von Positionen und Forderungen, die die digitale Kultur theoretisch wie praktisch vorlegt hat.

Wo sie von sich glaubt, politische Alternativen zum Bestehenden zu entwickeln, muss sie sich zunächst einmal Klarheit darüber verschaffen, inwieweit sie diesem nicht zugleich in die Hände spielt, und zwar indem sie es kritisiert und seine Fehler und Schwachstellen aufzeigt und zu beheben versucht. Die digitale Freiheit, von der sie spricht und die sie mit gutem Recht einfordert, muss selbst in ihrem ideologischen Kern verstanden werden, um sich von denen abzugrenzen, die ebenfalls von ihr reden, aber nur eine von allen Fesseln befreite Marktwirtschaft meinen. Die Diskussion um digitale Freiheit – und damit die Definitionshoheit darüber, was sie umfassen soll – darf nicht jenen Datenliberalen überlassen, mit denen wir zurzeit noch in einem Zweckbündnis um dringend benötigte Rechte bzw. Rechtssicherheit kämpfen.

Nüchternheit in Bezug auf die eigenen Möglichkeiten und Verstricktheiten wird dabei von entscheidender Bedeutung sein, zumindest da, wo digitale Kultur mehr sein will als schlichte Propaganda des jeweils kulturell Möglichen und technisch Machbaren, was sie leider ja viel zu oft bloß ist. Stattdessen müsste sie sich als experimentelle Form begreifen, mit der sich neue Möglichkeiten erproben und bestimmen lassen. Jene Euphorie, die Protagonist_innen der digitalen Kulturszene häufig an den Tag legen, wenn es darum geht, das Allerneueste auszuprobieren, einzuüben und durchzusetzen, verrät oft mehr über ihr Nichtverständnis von Kulturproduktion im Rahmen einer kapitalistischen Gesellschaft, als wirklich über die realen Chancen und Spielräume von Digitalität Auskunft zu geben.

Um sich vor der eigenen Begeisterung für alles Technische zu schützen, die nicht selten in banale Technikapotheose umschlägt, sollten sich digitale Kulturschaffende zuallererst einmal als jene ökonomischen Subjekte verstehen, die sie ja ohnehin schon sind: als digitale Arbeitnehmer_innen. Nur so lässt sich die alte bürgerliche Spaltung in Künstler_in und Arbeiter_in aufheben, wie sie auch von den avancierten Kulturproduzent_innen des 21. Jahrhunderts in der Regel ganz unreflektiert verinnerlicht wurde.

Gerade in dieser Perspektive darf unser Kampf um freien Zugang zu Kultur kein Kulturkampf bleiben. Er muss sich als etwas verstehen, das an der digitalen Kulturware exemplarisch Grundwidersprüche der bürgerlichen Gesellschaft prozessiert. Entsprechend sollte es uns dabei nicht so sehr darum gehen, ihn zu gewinnen, als ihn zu führen. Nur solange er geführt wird, können wir durch ihn ein Bewusstsein unserer allgemeinen Unfreiheit erlangen und sie an einem besonders prominenten Beispiel vor Augen führen.

Die Forderung nach einer „offenen Kultur“ bedeutet damit auch, die Kultur selbst zu öffnen. Bislang war sie bloß eine vermeintlich eigenweltliche Enklave im Waren produzierenden Kapitalismus, die wir in der selbstgewählten jahrhundertealten Sonderform der Künstler_innen bestätigen. Diese Sonderform gilt es aufzugeben, um – endlich! – aus dem Gefängnis der Kunst und der „künstlerischen Freiheit“ auszubrechen, dies uns so lange abhängig von gesellschaftlichem Wohlstand und bürgerlichem Wohlwollen gemacht haben, wie es sich z.B. im rapiden Bedeutungsverlust avantgardistischer Kunst in ökonomischen Krisenzeiten zu Erkennen gibt.

Wo wir uns weiterhin als Künstler_innen verstehen, passen wir uns den Erwartungen unserer Zielgruppe an, indem wir ihre Vorstellungen von Kunst und Künstler_innen bloß bedienen. Stattdessen müssen wir ökonomische Subjekte werden, die nicht nur um ihr Überleben auf dem digitalen Kunstmarkt kämpfen, sondern in ihrem Kampf jene Konkurrenzform erkennen, die die kapitalistische Ökonomie allen Subjekten aufprägt, die in ihr bloß Menschenwaren sein dürfen.

Auf diese Weise können wir das Ghetto der Kunst verlassen – sei sie nun digital oder analog – und wieder ins Offene gelangen, um dort um Wirklichkeit zu kämpfen, statt weiterhin ästhetische Unwirklichkeit zu produzieren.

Dem Anspruch der digitalen Kultur, das alles, was sich digitalisieren lässt, auch frei zugänglich sein sollte, liegt nämlich ein klassischer Reflexionsfehler zugrunde: Er weist der Kunst eine privilegierte Form zu, die sie von den Gebrauchsartikeln im Supermarkt unterscheiden soll. Dass diese ebenfalls „gemeinfrei“ sein sollten, dürfte innerhalb der Anticopyrightbewegung keineswegs mehrheitsfähig sein. Wo Netaktivist_innen darauf beharren, dass sich sehr wohl zwischen einer Büchse Erbsen und einer CD (oder besser gesagt: der darauf enthaltenen Musik) unterscheiden lässt, und dass das eine zu nehmen, ohne dafür zu bezahlen, Diebstahl sei, während die unreglementierte Verbreitung urheberrechtlich geschützten Materials nur eine Bagatelle darstelle, weil sie dem eigenen Freiheitsanspruch unmittelbar im Weg steht, bestätigt dies den alten Verblendungszusammenhang der Kunst. Die darf keine Ware sein um die jede Differenz negierende Totalität der Warenform immer noch einmal vor uns zu verbergen.

In der Digitalisierung verliert die CD ihre Wareform (die sich nicht zuletzt im aufgedruckten Barcode zu erkennen gab), weil unser Rechner sie in etwas Nichtmaterielles verwandelt: eine Playlist, einen Downloadbutton oder ein mp3-Format. Die materielle Trägersubstanz verbindet das kulturelle Artefakt mit der Ware, wie sie im Laden ausliegt, gekauft und schließlich materiell besessen werden kann. Wo ihre Materialität jedoch immer weiter zum Verschwinden gebracht wird, wird sie umso anfälliger für idealistische Kunstbegriffe und damit für jene Ideologie, die Kunst aus der gesellschaftlichen Ökonomie heraussperrt. Für sie soll das kulturelle Artefakt ein Gegenüber der schnöden Alltagsware sein, in deren banaler Gestalt sich die kapitalistische Ökonomie exemplarisch zeigt. Dass sie sich prinzipiell allem aufprägt, was in ihrem Rahmen erscheint: jedem Yoghurtbecher und jedem Protestsong kann so geflissentlich übersehen werden.

Mit der materiellen Trägersubstanz verliert das kulturelle Artefakt also zugleich auch immer mehr vom alten politischen Gehalt der Kunst. Politisch war die bürgerliche Kunst nämlich nicht eigentlich in der Thematisierung von Missständen oder der Bekundung individueller Unzufriedenheit, sondern in dem Maße, wie sie den Widerspruch zwischen ihrem Sein und ihrem Schein, zwischen ihrer Gestalt und ihrem Gehalt, zum Ausdruck brachte. Wo sie diese Differenz-mit-sich-Selbst nicht mehr herstellen kann weil sie als digitalisierte kaum noch eine sichtbare Warenform annehmen kann, verliert Kunst ihr altes Reflexionsmoment und verkommt zur Reklame der Verhältnisse.

Wo die alte materielle Kulturware immer wieder gegen die ihr vom bürgerlichen Diskurs (als Darstellung idealbildlicher Freiheit) auferlegte Warenform rebelliert hat, muss die neue digitalisierte Kunst es ihr gleichtun. Sie muss gegen jene Freiheit prozessieren, die sie doch zugleich fordern muss, um die Widersprüchlichkeit und Inkongruenz des bürgerlichen Freiheitsparadigmas in den Blick zu bekommen, statt zu glauben, sie könne, insofern sie ihren Freiheitskampf nur dies eine Mal gewinnt, die kapitalistischen Verhältnisse unmittelbar von sich selbst erlösen und in das hippieromantische Paradies freien Informations- und Datenaustauschs eintreten, in dem sich die kapitalistischen Widersprüche in Harmonie und Glück auflösen.

Die Unfreiheit im Waren produzierenden Kapitalismus kann in der Freiheit im Netz, um die so erbittert gestritten wird, Freiräume erkämpfen. Aber ein Freiraum macht noch keine freie Gesellschaft.

Traditionellerweise ist die „Open Culture“ Artikulationsfeld und Spielwiese idealistischer Gesinnungen, die genau diese Freiheitsperspektive in der einen oder anderen Weise entwerfen. Bereits in der Gegenwart glauben sie einen Vorschein davon herstellen zu können, indem sie höheren Motiven folgen. Wer an freier Software arbeitet tut dies meist nicht aus materiellen Erwägungen. Die Offenheit, die die „Open Culture“ im Sinn hat, steht keineswegs im Widerspruch zum Idealbild der „Offenen Gesellschaft“, wie sie Karl Popper propagiert hat. In der offenen Gesellschaft ist aber vor allem die Information frei und die Subjekte nur insofern, sie beliebig zu nutzen und in Umlauf zu bringen. Dass sie dafür in materieller Unfreiheit gehalten werden müssen, wird in dieser Perspektive entweder vernachlässigt oder zum Nebenwiderspruch verkleinert: Den Armen, materiell besonders Abhängigen und Deklassierten fehlt es dabei vor allem an Information und Aufklärung, nicht aber an Mindestlohnstandards, gesetzlicher Krankenversicherung oder Eigentum an Produktionsmitteln. Dies ist die Lüge, auf der die Idee der „freien Gesellschaft“ basiert.

Die freie Verfügbarkeit der Kultur im Netz, die wir fordern, darf also nicht unser letztes Ziel sein. Sie ist nur der Hebelpunkt, an dem wir ansetzen. Im Anspruch auf freie Kultur liegt ein allgemeiner Freiheitsanspruch begründet, wo wir ersteres schließlich bekommen, könnte letzteres wieder verstummen. Dies ist das Paradox, in dessen Bewusstsein wir agieren, insofern wir mehr wollen, als bloß so viel herunterzuladen, wie wir eben wollen.

Aus all dem ergeben sich Fragen, die paraflows 2013 diskutieren möchte:

Zunächst müssen wir uns Klarheit darüber zu verschaffen, welcher Begriff von Kultur (und Freiheit) unserem Anspruch auf freien Zugang zu dieser zugrunde liegen soll, wie er sich zu traditionellen Kunstauffassungen verhält und wo er sich gegen diese sperrt. Welche Freiheit meinen wir, wenn wir sie fordern, und für wen soll sie gelten? Auf welche Weise wollen wir sie durch-, und wie wollen wir sie umsetzen? Muss unsere Freiheit überhaupt, wie es eine alte Binsenweisheit behauptet, stets die Freiheit des Anderen sein oder gibt es eine Freiheit, die wir uns herausnehmen können, ohne sie deswegen gleich verallgemeinern zu müssen? Und welche Bedeutung hat sie für unsere Praxen –alltägliche wie künstlerische? Inwieweit ist sie überhaupt wünschenswert? Welche Vorteile bietet uns der aktuelle Stand unserer Unfreiheit oder jene prekäre Freiheit, die uns zu freien Menschenwaren auf einem freien Markt macht?

Ist die Freiheit, die wir fordern, nicht bloß die individuelle durch Privilegien, etwa durch avancierte Kenntnisse im Verschleiern unserer Aktivitäten im Netz, über die wir verfügen und damit ein bloßer Selektionsvorteil, der dafür sorgt, dass stets nur die Unbedarften, Naiven und Schlechtgeschützten erwischt und belangt werden?

Und: Wie sollen wir damit umgehen, dass unser Freiheitsanspruch immer auch unsere eigene Position als Produzent_innen digitaler Kulturgüter schwächt? Wie können wir eine freie Kultur fordern, wenn dies doch zugleich bedeutet, unsere eigene Kulturproduktion freizugeben, und damit das, wovon wir als kulturelle Produzent_innen abhängen?

Inwiefern lässt die spezifische Form digitaler Arbeit Klassenbewusstsein überhaupt zu, und was bedeutet es für dieses, wenn die Zugänge geöffnet werden? Inwieweit spielen alternative Modelle wie Kulturflatrates dem Bestehenden in die Hände und wo enthalten sie Potentiale (und welche), die sich nicht mit diesem zur Deckung bringen lassen? Welche Möglichkeiten bietet das Netz als weltweite Kulturgemeinschaft gegen die Partikularinteressen postfordistischer Staaten? Welche Widerstandsformen lassen sich dort und durch seine spezifische Form realisieren, und was muss dieser Widerstand aufgeben, um wiederum ins Netz und die von ihm getragene Kultur zu passen?

Und zu guter letzt: Welche Modelle lassen sich finden, in einer von Zugangsbeschränkungen (und damit auch von der Verwertbarkeit und Exklusivität) befreiten digitalen Kultur – nicht nur um zu überleben, sondern um vor allem auch gut zu leben?


Frank Apunkt Schneider/Günther Friesinger