Perspektiven: Rekonstruktion des Selbst und Alternativen

SYMPOSIUM - Sonntag, 18.09.2016, ab 15:00 Uhr

Moderation: Clara Gallistl

 

15:00 | Sarah Held
Das Schaf im Wolfspelz - Tätowierungen als Mittel Identifikation und Identitätsbildung

Tätowierte und gepiercte Menschen prägen seit einigen Jahren den urbanen Stadtraum, in den Medien sind sie gar omnipräsent. Es scheint als habe die Tätowierung ihr negatives Stigma längst abgelegt. In den gentrifizierten Metropolen werden die Nicht-Tätowierten zur optischen Randgruppe. Doch war die Situation bis vor wenigen Jahren nicht genau umgekehrt? Menschen mit großflächig angelegten Tätowierungen bzw. Ganzkörpertätowierungen waren im Stadtbild eine Seltenheit und eher in subkulturellen Kreisen bzw. kriminellen Milieus als im gesellschaftlichen Mainstream verortet. Die Freakshow-Charaktere der Jahrmärkte des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts haben ihren Rummel verlassen und sich in der Popkultur niedergelassen. Tätowierungen eignen sich wie keine andere Form der Körpermodifikation zur Verhüllung. Sie wird so zum Instrument der Selbstinszenierung und dient zum Herstellen von Identität.

Es stellt sich nun die Frage, ob es sich tatsächlich um sogenannte Freaks bzw. gesellschaftliche Außenseiter handeln, an denen sich der Trend zu großflächigen Tätowierungen ablesen lässt? Welche kulturellen und gesellschaftlichen Codes werden gelesen, verändert oder bestätigt? Wird die rebellisch-nonkonformistische Attitüde, welche Extremtätowierten oft unterstellt wird, bestätigt oder suggeriert die farbige Hülle nur einen gefährlichen Wolf bzw. eine gefährliche Wölfin, hinter der sich ein brav-biederes Schäfchen verbirgt? Gibt es eine Steigerung von transgressiven Körpermodifikationen, wenn in der Popkultur tätowierte Hände und Hälse schon fast zur Norm avanciert sind?

Wie lässt sich die Tätowierszene aus gendertheoretischer Sicht lesen, wie werden omnipräsente Schönheitsideale verhandelt? Wie hoch ist der Frauenanteil in der Gruppe der Starktätowierten, dient die Körpermodifikation zum Bruch mit stereotypen Geschlechterzuschreibungen? In Bezug darauf wird kritisch das Phänomen des weiblichen Tattoomodels dargestellt. Eine kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Tätowierungen als identitätsstiftendem Konstrukt ist keineswegs neu, allerdings weist die einschlägige Forschung bei der genderorientierten Untersuchung des Tattoomodel-Phänomens im Zeitalter digitaler Vernetzung noch einige Leerstellen auf.

Audiobeitrag

 

16:00 | Sina Muscarina
Polyamorie. Mehr als Eine Liebe.

Im  Hauptstrom  der  akademischen  Psychologie  wird  das  Konzept  der  monogamen Zweierbeziehung  selten  infrage  gestellt.  Die  vorgelegte  Arbeit  will  diesbezüglich  eine  Lücke schließen  und  versteht  sich  als  Beitrag  zur  Herstellung  von  akademischer  Öffentlichkeit  für die Anliegen vielfach liebender Menschen. Als  Methode  der  Datengewinnung  wurden  Interviews  über  Skype  geführt  und  anhand  der narrativen  Datenanalyse  nach  Schütze  (1983)  deren  phänomenologische,  interaktions?  und kommunikationstheoretische  Prämissen  rekonstruiert.  Die  Biographie  einer  Frau  und  eines Mannes stehen im Vordergrund.

Für  beide  Interviewpartner  gilt,  dass  sie  sich  in  biographisch  wichtigen  Phasen  ihres  frühen Erwachsenenalters  am  monogamen  Beziehungsmodell  orientiert  und  abgearbeitet  haben.  Bei  beiden,  beim  Mann  auffallender  als  bei  der  Frau,  orientiert  sich  die  biographische  Darstellung  an  einem  emotionalen  Wandlungsprozess  bezüglich  des  monogamen/polyamorösen Lebens(themas),  demgegenüber  äußere  Kriterien  wie  Personen  oder chronologische Daten relativ ausgeblendet werden.   

Die  Interviews  sind  stark  von  eigentheoretischen  Ausführungen  zur  Polyamorie geprägt, wobei Theorien über Polyamorie aufzustellen einer bestimmten Abarbeitungsphase entsprechen  können  und  durchaus  den  Nukleus  einer  Phasentypik  polyamoröser Biographien  bilden  –  als  eine  spezifische  Stufe  der  Abarbeitung  bzw.  Aneignung  eines Lebensthemas. Es handelt sich um eine Art autotherapeutisches Narrativ der Selbstformung im  Sinne  von  Illouz  mit  einer  steigenden  Verlaufskurve  bzw.  um  ein  als  intentional  erlebtes Schema der Selbststeigerung, sich quasi selbst als therapeutisches Projekt zu sehen. Eine  jedenfalls  markante  Fährte  für  die  Deutung  polyamoröser  Lebensformen  ist  eine Psychotechnik  namens  „amor  fati“,  d.h.  die  nachträgliche  Bejahung  eines  zunächst schwierigen  Schicksals.  Ob  dieses  Motiv  das  hier  auch  im  Mantel  des  Karmadenkens erscheint,  in  der  polyamorösen  Community  verbreitet ist und  welche  Funktion  es  darin  hat, wäre für weiterfolgende Forschungen interessant.    

In  beiden  Interviews  wird  deutlich,  dass  manche  von  den  polyamoröses  Leben begleitenden  Schwierigkeiten  von  gleichgesinnt  lebenden  Gemeinschaften  entschärft werden  können.  Über  die  Kollektivierung  der  eigenen  Erfahrung  wird  dem  Mann  ein Übergang  von  einem  defizitären  und  sehr  selbstbezüglichen  zu  einem  positiv?progressiven Selbstbild  möglich,  das  sich  zudem  in  ein  großes  gesellschaftspolitische  Bild  einschreiben lässt.

Grundsätzlich  sind  die  Biographien  als  Erfolgsgeschichten  dargestellt.  Sie  entwickeln  sich  im Sinne  einer  Emanzipation  von  einer  als  beschädigend  erlebten  sozialen  Einbettung  zu  einer als positiv wahrgenommenen sozialen Organisation. Prospektiv zeigt sich Polyamorie als ein fragiles  und  in  sich  spannungsgeladenes  Projekt,  das  einen  Prozess  zwischen  Erfolg  und Hoffnung darstellt.

Audiobeitrag

 

17:00 | Alessio Chierico
The Representation of Self in Digital Life: Digital ontology for digital identity

Envisioning a sort of translation of the self in electronic information, in the late 60's Marshall McLuhan introduced a concept which acknowledged the existence of a mirrored identity in the informational realm. Following a similar approach, in 1995 Nicholas Negroponte, with his book “Being Digital”, predicted that anything can be potentially translated in digital information. According to his theories, the atoms that compose the physical reality, can be conceptually translated in digital bits. In this sense, Negroponte envisions a future in which all the forms of information made by atoms are destined to become digital. Since nowadays it is possible to recognize digital as an essential substance that constitutes the basis of our cultural production and virtual identity, it become necessary to question what digital is. Thus, it become necessary to research the ontology of digital.

The research presented here combines the idea of digital identity with digital ontology. Exposing issues like visual representation and materiality, it aims to provide the conceptual tools for an understanding of the digital nature. With a purely speculative method, this presentation account some artistic projects made by the author, as cases of study. The intent of these projects is exploring the ontology of digital, in some of them, exposing the hidden substance of computational photography. The digital image is here considered the best subject to investigate, since it can easily exemplify the discrepancy between the sensible (and represented) form of digital, and its mathematical essence.

A large discussion that involves digital image, concentrates its attention in the problematic about the lost of referent. This focus on the referentiality of the subject in digital visual representation, become particularly relevant in a metaphorical relation with digital identity, when the subject is a person. With conceptual approach, some of the artistic projects introduced in this presentation, questioning the idea of referent, they also interrogates the idea of person identity, translated in a digital representation. However, sharing the common topics of digital ontology, and representation, the projects here introduced are also related to topics like: intellectual property and copyright, in addition to ancient concept of shape and form.

Audiobeitrag